Vierhunderter Tour nach Rügen
➡︎ 402 km, ⬆︎ 1.550 m und ➡︎ 94 km, ⬆︎ 370 m
23:15 Uhr am Donnerstag den 18. September.
Sagt man jetzt guten Morgen oder gute Nacht…?
Eigentlich wollte ich es schon Ostern machen, da hat mich aber eine Erkältung ausgehebelt. Dann Pfingsten – da durfte ich vom Arzt aus nicht radeln und bin mit dem Zug. Beim Blick auf die sommerlichen September-Wetter-Aussichten vorgestern fiel mir wieder diese Tour ein. Also Tantchen angeklingelt und nachgefragt, ob’s passt. Und nun starte ich 22:30 Uhr an einem Septemberabend schon mal ins Wochenende.
Das ist das wirklich Gute am Selbstständigsein: neben dem Selbst und dem Ständig wenigstens spontan selbst zu entscheiden – ob ich nun alles eingearbeitet habe oder ob ich einfach gerade Bock habe.
Für mich eine Premiere: abends zu starten, um die Nacht durchzuradeln.
Die Nacht ist leise und mega mild, 19 Grad, kein wirklicher Verkehr. Nur das Surren der Reifen und viel Dammwild – und in und nahe den Ortschaften Katzen ohne Ende.
Nach 60 Kilometern stehe ich in Stendal auf dem Marktplatz vor dem Roland. Die Stadt schläft… wobei in der Stille auf einmal eine laute und ziemlich gereizte männliche Stimme die Ruhe durchstößt. Irgendwer telefoniert ziemlich schallend über den Markt, bei offenem Fenster.
Weiter Richtung Wittenberge, an der Elbe wird’s frischer. Nach ca. 100 km animiert mich ein gut behangener Birnenbaum zu einer Pflückeinlage – und von mir fühlt sich scheinbar eine Hornisse provoziert. Richtig übertrieben, ihr Revierkampf: immer an mir dran, unangemessen an Gesicht und Händen. Sie wollte einfach Stress machen oder mochte mich nicht. Selbst bei der Flucht ist sie mir hinterher. Naja, zum Glück war ihr wohl bewusst, dass sie sich mit einem Stich auch keinen Gefallen getan hätte.
In Perleberg habe ich dann den Rest meines vorgekochten, sehr kalorischen Reises weggeatmet. Es gibt Leute, die lutschen so ’ne Sport-Energiebeutelchen. Das ist nichts für mich… Ich liebe einfach Essen zu sehr und ich muss dafür auch absteigen und benötige meine Zeit. Das zerrt dann halt auch am Zeitkontingent.
Über Pritzwalk ging es weiter nach Meck-Pomm. In Waren an der Müritz wieder eine weitere Essens- und vorallem die erste Kaffeepause. Ich brauche drei Kaffee, da ich ziemlich müde bin. Am Supermarkt, vor dem ich im Schneidersitz abspanne, komme ich mit einem älteren Ehepaar ins Gespräch. Die Dame: „Ach, Magdeburg – da stamme ich her, aber nicht direkt…“ Ich so: „Woher denn?“ – „Bei Leipzig“, meinte sie. Innerlich etwas verwundert, da Leipzig und Magdeburg ziemlich auseinander liegen, habe mich ja gefreut, dass für die Frau Leipzig Magdeburger Umland ist – spricht dafür, dass sie Magdeburg als Weltstadt sieht.
Vielleicht verbindet man mit Mecklenburg-Vorpommern keine Berge… es sind auch keine Berge in dem Sinn, aber man sollte die hügelige Landschaft mit ihren vielen Seen, Alleen und Feldern nicht unterschätzen. Genauso wenig wie den immer präsenten Wind.
Langsam bemerke ich, dass es mit der gedachten Ankunftszeit zum frühen Abend, doch nicht ganz so hinhaut, was mich etwas stresst – denn meine Tante und mein Onkel warten ja auf mich, und in der Nacht aufzuschlagen wäre unhöflich. Beim genauen Blick auf Komoot stellte ich fest: ich habe bei der Planung „Rennrad“ angegeben, wodurch mit einer anderen Durchschnittsgeschwindigkeit gerechnet wurde. Nun bin ich mit Henriette nicht wirklich langsam, aber an ein Rennrad kommen wir nicht ran.
Nachdem wir die Mecklenburgische Seenplatte hinter uns gelassen haben, ging’s weiter in den Landkreis Rostock. Und dann rein nach Vorpommern. Früher hieß es Nordvorpommern, seit der Gebietsreform trägt es den Namen Vorpommern-Rügen (find ich persönlich doof, denn Rügen ist nicht klein und würde gefühlt besser ein eigener Landkreis sein).
Aber egal – wichtiger ist: wir haben die magische 300-km-Marke geknackt!
Nun zieht es sich, und der Wind macht’s nicht einfacher. In Stralsund, mit der wunderschönen historischen Altstadt, muss ich die weitere Streckenplanung über die Fährverbindung Stahlbrode canceln, da nicht mehr erreichbar – also über den Rügendamm neben der imposanten Rügenbrücke. Die Sonne geht hinter der Stadtsilhouette von Stralsund unter und bietet so ein romantisches Bild mit dem Wasser des Strelasund davor.
Auf Rügen geht’s nun, wie ich schon gestartet bin, im Dunkeln weiter, etwas Zickzack auf sandigen, holprigen oder schlotterigen Wegen, durch Wälder und entlang des Boddens – durch mystische Nebentäler die letzten Kilometer Richtung Mönchgut. Jetzt ist das Ziel nah. In Baabe fahre ich die Strandstraße hoch, um das Meer zu sehen. Auf der Strandstraße ist viel los und an der ersten Bar, in der Leute draußen sitzen, stechen mir zwei Leute gleich ins Auge. Ich denke so: „Na schau, Tina und Christian sind wieder da… - hä, warte mal. - Wir sind nicht in Magdeburg Buckau, sondern auf Rügen.“ Voll witzig, denn die zwei sehe ich oft abends bei uns im Kiez, wenn sie in unserer Bar draußen auf der Terrasse sitzen 🥳.
Nach dem Beweisfoto und dem freudigen Schnack mit den zwei kurz noch die Ostsee schnuppern – und an der Strandpromenade nach Göhren dem östlichsten Punkt der Insel. Der Ortsname Göhren kommt übrigens von Berg/Hügel. So ist es auch, man muss noch mal nach oben fahren – und nach 18 Stunde, 14 Minuten Fahrzeit, 1550 Höhenmeter bergauf und 402 Kilometern erreiche ich mein Ziel: das Haus meiner Tante und meines Onkels in Göhren. Lange habe ich mich nach der Begrüßung, dem Essen und dem Wiedersehensgespräch nicht mehr aufrecht halten können, sodass ich mich nach dem wohltuenden heißen Bad ziemlich komatös in die Horizontale begeben habe.
Am Samstag war ein entspannter Tag mit meinen Leuten. Nachmittags flakte ich mich an den Südstrand, der wesentlich entspannter ist als der Nordstrand mit seiner Promenade und seiner Seebrücke. Abends ging es noch zur Seebühne, zu einem Countrykonzert einer Band, deren Frontmann sehr überzeugt von seinem Können gewesen sein muss. Ich hatte ehrlicherweise Angst, meine Zähne bei den Stimm-Schwankungen zu verlieren. Und bei den Bierpreisen von 6 € mit Selbstbedienung stachen meine Augen wie bei den Simpsons hervor – in einer Art Schilddrüsenüberfunktion.
Am Sonntag ging es 94 Kilometer mit heftigen Windböen von vorn, mit den zwei Fährfahrten in Moritzdorf und Stahlbrode, von der schönen Insel Rügen. Mit dem Gegenwind hatte ich ehrlicherweise Mühe, pünktlich den Zug in Demmin zu erreichen. Mit fünf Minuten Puffer erreichte ich den Bahnhof – und bin gleich wieder entsetzt über die Deutsche Bahn. Mein Zug fällt einfach aus. Keine Verspätung oder ähnliches – der Zug kommt einfach nicht, als ob er von Aliens vom Gleis gebeamt wurde. Was wohl aus den Passagieren geworden ist, die in dem Zug saßen, den es nun einfach nicht mehr gibt? Ob XY ungelöst das mal in einer Sendung aufnimmt und um Mithilfe bittet?
Eine Stunde später versuche ich mich mit einem anderen Zug – dessen Toiletten sich im Funktionsdefizit befinden – und mehreren Umstiegen in Richtung Heimat durchzuschlagen.







































