➡︎ 107 km, ⬆︎ 2.090 m, ⬇︎ 1.010 m
Der frühe Vogel ist mal wieder längst weg und hat mich nicht mitgenommen. Die Matratze auf der Dachterrasse hat mich noch festgehalten, und meine müde Trägheit hat sich ihrer Macht ergeben (wie fast immer).
Die Nacht war eigentlich richtig schön. Aber ich hatte mal wieder ordentlich Panik-Attacken. Da ich das öfter habe, haut mich das – auch wenn’s mega anstrengend ist – nicht mehr ganz so aus den Badelatschen.
Die Angst ist wie ein Familienmitglied, das sich hin und wieder meldet, sich in mir breitmacht und dann aus meinen Augen in eine Welt schaut, die sie nicht wirklich versteht – in der sie sich fremd und allein fühlt. Dann muss der erwachsene Teil von mir versuchen, nach vorne zu treten, sich um die Angst zu kümmern und sie zu beruhigen.
Heute Nacht stand sie wieder fest neben mir, besser gesagt in mir und war völlig panisch: Was machst du da? Wo bist du? Pässe? Niemals schaffst du das! Dein Körper? Du bleibst irgendwo hängen, bist überfordert, fällst zurück in dieses grausame Dunkel und bist hilflos ausgeliefert. Ich weiß doch gar nicht, wo ich bin – und hier ist niemand, der aufpasst.
Und dann muss ich mich schütteln: Hey, keine Angst. Schau dich an. Schau, was wir schaffen. Uns kann man nackig in einen Wald schicken, und am anderen Ende kommen wir in einem Anzug gekleidet wieder raus – mit tollen Erlebnissen und Begegnungen.
Für Außenstehende ist das vielleicht schwer nachzuvollziehen – wenn man sieht, was ich sonst mache, wie viel Gottvertrauen ich habe und wie ich mich freuen kann, einfach nur zu atmen. Und trotzdem gibt es diese kleinen frechen Dämonen mit ihren traurigen Geschichten, die einfach in den Arm genommen werden wollen, um sich zu beruhigen.
So, nun habe ich mich aber genug nackig gemacht.
Jedenfalls schäle ich mich langsam aus meiner Bettung, und es fühlt sich an wie in einem Panorama-Wellness-Hotel: das tolle Haus von Gabi und Christian mit den versetzten Ebenen, den offenen Bereichen, Glasfronten und Terrassen und diesem unbeschreiblichen Blick in das Bergpanorama. Nach links oben der Kaunergrat mit Gipfeln bis 3.395 m, der das Pitztal vom Kaunertal trennt und zu den Ötztaler Alpen gehört, an dessen südlichem Ende die Ötztaler Hauptkette mit der Weißseespitze (3.518 m) und dem Kaunertaler Gletscher liegt – und die Grenze zu Südtirol (Italien) markiert. Geradeaus der Glockturmkamm mit Gipfeln bis 3.353 m, hinter dem das Obere Inntal liegt. Nach rechts: Burg Laudeck, Prutz, Fließ und im Hintergrund das bekannte Skigebiet Serfaus-Fiss-Ladis (Samnaungruppe).
Wenn man so an der Terrassen Brüstung steht und hinunterschaut, wirkt es, als ob man von einem Hochhaus blickt – nicht, weil das Haus so viele Etagen hätte, sondern weil die Straße und der Ort durch die steile Hanglage so tief liegen.
Ich genieße es sehr, mit Gabi beim wirklich leckeren Kaffee (es wurden einige), so tiefgründig und freudig ins Gespräch zu kommen. Christian ist schon zur Arbeit. Für Gabi mochte es im ersten Augenblick verfressen ausgesehen haben, aber auf solchen Touren braucht mein Körper ordentlich Energie – das ist immer lustig, wenn andere einen beim Frühstück zuschauen und in ihren überraschten Blicken steht: Hat er jetzt wirklich die zwei Eier und das Kraftmüsli weggeatmet? Und warum guckt er mich jetzt mit so einem durchdringenden Dackelblick an, als ob er noch nach was zu essen haben will? Und warum wiederholt sich das ständig, obwohl ich schon nachgelegt habe?
Noch kurz checken, wo ich eine neue Stirnlampe (meine hat gestern den Geist aufgegeben) oder einen Fahrradscheinwerfer kaufen kann, und die guten Hinweise beherzigen: noch schnell in Österreich einzukaufen, bevor es zu den Altgenossen geht.
Dann geht es los. Das erste und einzige Mal meiner Tour fahre ich die gleiche Strecke zurück wie am Vortag – nur ein paar Kilometer, aber ungewöhnlich für mich. Nun durfte ich den gestrigen Anstieg, frisch geduscht und beseelt vom schönen Besuch in Kauns, nach Prutz runterdüsen, um dort im Fahrrad-Sportgeschäft nach einer Stirnlampe zu fragen.
Der Verkäufer scheint sein eigenes Sortiment nicht zu kennen: „Haben wir nicht“, sagt er auf meine Nachfrage. Ich dachte: Na gut, dann halt ein Fahrradscheinwerfer. Aber beim Preis dachte ich, ich hätte hier auch meine Schuhe kaufen sollen – allein der Scheinwerfer war 20 € günstiger als gestern in Telfs. Naja, die Lampe wollte ich dann doch nicht nehmen, da ich beim Bezahlen hinter den Tiroler Alpen-Schultern des Verkäufers Packungen blitzen sah, die verdächtig nach Stirnlampen aussahen. Und ja – es waren welche. Er kommentierte das mit einem „Hach“. Meine Verwunderung habe ich runtergeschluckt. Schließlich standen die Stirnlampen direkt hinter ihm im Regal, nicht unpräsent und auf Augenhöhe. Vielleicht ist er wie eine Sonnenblume, die nur in Richtung der Sonne schaut.
Zum Glück ist die Stirnlampe mit externen Batterien, von denen ich gleich noch ein paar gekauft habe – denn das Aufladen über USB kann auf langen Touren auch mal blöd enden. Mein Solarpanel schafft gerade so, kleine Powerbanks zu füttern, damit mein Handy läuft. Viel ist das nicht, aber immerhin. Nur sehe ich dabei, auf Henriette, mit den ganzen Kabeln, die von hinten in die Rückentasche und nach vorn zum Handy gehen, aus wie an ein Herzrhythmusgerät angeschlossen, das mir überhaupt erst die Kraft zum Treten gibt.
Es sind viele Radelmenschen unterwegs. Das Obere Inntal scheint eine Haupt-Fahrradroute zu sein, fast pilgerartig. Unterwegs fahre ich acht Kilometer mit Lukas und Daniel, die später links über den Reschenpass nach Südtirol weiter sind. Beide haben sich auch erst beim Radeln und auf Zeltplätzen kennengelernt. Viele wie sie steuern Zeltplätze an und machen von dort Tagestouren – auch schön, aber nicht mein Ding. Mein inneres Konzept bleibt: Der Weg ist das Ziel.
Daniel war eigentlich mit einem Kumpel unterwegs, aber der nimmt die Berge „zuuuu laaaaangsam“. Mit gegenseitiger Rücksichtnahme war das beiden zu anstrengend, daher treffen sie sich abends nur am Zeltplatz. Genau aus diesem Grund mache ich meine Touren von Anfang an allein – ohne Rücksicht auf Tempo, Pausen, visuelle oder olfaktorische Reize, die mich oder die andere Person bremsen könnten. Und man darf nicht vergessen: mit der Zeit entwickelt man Eigenheiten, die für Mitmenschen zur Überreizung bis hin zum Blutrausch führen können. Ich war schließlich 15 einhalb Jahre Hausmensch und Wegbegleiter eines sehr bestimmenden Dackels. Ich sage nur: Romulus und Remus die von der Wölfin großgezogen wurden.
Weiter nach Pfunds, kurz vor der Grenze noch Kalorien shoppen und ein Plausch mit zwei Mädels aus München und Regensburg, die auch in Richtung Südtirol (Meran) unterwegs sind, aber ebenfalls über den Reschenpass düdeln. Während des Gesprächs meldet sich wieder ein innerer Konflikt: Pohl… solltest du nicht auch lieber über den Reschen? Sicherer, machbarer – und trotzdem anstrengend genug. Alter, du bist 46, dein Rad ist beladen wie eine afrikanische Kuh – bist du bekloppt?
Aber dann mein Kampfgedanke: Ich habe diesen einen Pass im Kopf, auf der Route, der mich überhaupt zur Pass-Tour animiert hat. Allein der Gedanke diesen Pass zu Fahren versetzte mich bei der Planung in einen Adrenalinrausch. Ich muss das jetzt versuchen, sonst weiß ich nie, ob ich es geschafft hätte. Notfalls müsste ich umdisponieren.
Entschieden – und allein damit kommt Kraft, Energie und Vertrauen zurück. Ein feines Gefühl. Die Sonne scheint, nicht nur vom Himmel, auch in mir.
Die Weiterfahrt auf dem Radweg neben der Engadin-Straße Richtung Westen und das weiter Fahren auf der Straße, im sehr engen Inntal kurz vor der Grenze zur Schweiz, wird aus bautechnischen Gründen untersagt, und die Umleitung führt auf einen eher schottrigen Weg, der eher was für Mountainbikes ist. Es geht ziemlich steil runter zum Innlauf. Ganz hübsch – aber der Gedanke, dass die Straße, zu der ich nachher wieder muss, zwar nur 100 Meter rechts neben mir verläuft, aber gefühlt 500 Meter weiter oben liegt, dämpfte etwas die Begeisterung.
Aber hey – man sieht Sachen, die ich oben neben der Straße nicht gesehen hätte: Altfinstermünz, eine Grenz- und Zollbefestigung mit einem Wehrturm mitten im Inn, der, so glaube ich, die Grenze markiert. Genau hier springt die Grenze in den Fluss und wird im weiteren Verlauf von dieser natürlichen Grenze definiert. Die eigentliche Festung liegt auf österreichischer Seite. So überfahren Henriette und ich, ohne es wirklich mitzubekommen, die Grenze zur Schweiz. Premiere – hier waren wir noch nie zusammen.
Etwas später, der Schotter auf dem Weg wird loser und es geht sportlich steil hoch zur Straße. - Zu steil. Nun musste ich doch schieben – bei dem losen Schotter und der krassen Steigung findet Henriette keinen Grip und dreht durch. Also ein paar Meter schieben und immer mal wieder versuchen, ob es nicht doch „fahrend“ weitergeht. Oben an der Straße stellte ich dann auch den Grenzübertritt fest – und ich bekam eine kleine Freude-Gänsehaut.
Hinter Martina (in der Schweiz) am Dreiländereck, wo es das letzte Mal zum Reschenpass hochgeht, wird es fahrradtechnisch ruhiger. Ich genieße die Fahrt und das Klima. Die Bergwelt hier im Engadin in Graubünden sieht gleich wieder anders aus – auch die Architektur: Häuser mit aufwendigen Malereien, Kratztechniken, viele Rundbögen, teils über zwei Etagen, alte dicke Gemäuer. Die meisten Fenster sind klein, tief im Mauerwerk und erinnern fast an Bauchnabel.
In Scuol finde ich die Abzweigung nach rechts oben nicht… Ist die Kreuzung weg??? Komoot meckert: bitte wenden, Tour liegt links von dir in 200 Meter… auf einmal rechts… dann: du hast die Tour verlassen, schau auf die Karte. Henriette schnauft, sie hat keinen Bock mehr weiter auf der Straße zu fahren, auf die ich sie gelenkt habe, da ich dachte, es sei eine clevere Abkürzung. Ich fluche: Komoot, was ist mit dir nicht in Ordnung, was willst du, du blöde Kuh!
Auf der Karte sehe ich klar, da muss eine Kreuzung sein. Aber nix. Bis ich als Flachland-Tiroler kapiere: Die Alpen sind dreidimensional. Das Problem mit der Navigation hatte ich vor zwei Jahren auch am Gardasee. Da dachte ich auch hier Kreuzen sich doch die Weg. Das passiert wenn man auf eine zweidimensionale Karte schau die Realität jedoch dreidimensional ist. Die vermeintliche Kreuzung besteht in Wahrheit aus einer Straße, die am Hang verläuft, während ein tiefliegender Weg steil aus dem Ort unter der Strasse hindurch, auf der anderen Seite, steil hinauf auf in den Berg geht. – Also doch wieder runter in den Ort (so wie Komoot es auch meinte) um auf der anderen Seite wieder hochzukommen.
Steil und schwitzend geht es erstmal einige Kehren von 1.000 hm auf 1.700 hm nach Ftan. Ein oberhalb des Inntals gelegenes Dorf. Es riecht nach frischem Heu, und die Nachmittagssonne legt einen entspannten Schimmer über den Ort. Am Wasserbrunnen entspanne ich auf einer kleinen Treppe, die hoch zu anderen Häusern führt, und genieße den Ort und das Sein.
Eine Katze – oder ein Kater – luchst vor, hat keine Scheu, kommt zu mir, schmiegt sich fest an mich, will gekrault werden und meine volle Aufmerksamkeit. Dieses süße Wesen wirbt richtig um meine Aufmerksamkeit. Wenn ich es mal nicht kraule, legt es sich bettelnd und animierend auf den Rücken. Ich war schockverliebt.
Aber nun muss es reichen – ich will heute ja noch was schaffen. Es geht nochmal Schotterwege hoch und runter, und eine vorgegebene Route von Komoot habe ich abgebrochen: viel zu steil, viel zu schlotterig und für Madame und mich nicht befahrbar. Scheinbar stelle ich bei der Planung manchmal versehentlich das Bewegungsmittel um oder verlege die Strecke durch Antippen, weil sie streckentechnisch auf der Karte schöner wirkt – ohne nachzuschauen, ob sie überhaupt Henriette-geeignet ist. Also runter auf den Asphalt.
Und dann noch dies… seit gestern tun mir meine Füße, speziell die Fußsohlen, so weh – obwohl ich die Schuhe doch erst gestern gekauft habe. Im Stehen Berge hoch gurken, geht so definitiv nicht. Habe ich da etwa Mist gekauft? Schuhe, die nicht zu meiner Knick-Senk-Spreiz-Fußanatomie passen??? Ich muss die mal ausziehen und die Füße etwas entspannen… Ich fühle mit den Fingern die Sohle von innen ab… und denke: Es ist keine Überlastung der Fußsohle, warum es so schmerzt. Es sind die tollen Schrauben, die mir der Verkäufer in Telfs für die Klickies mitgegeben hat – minimal länger als die Sohlenbreite der Schuhe – und so drücken sie latent und eher unbemerkt in den Fuß.
Das ärgert mich schon arg, dass der Verkäufer das so mitgibt – und das, obwohl er doch weiß, dass ich eine große Tour mache und nicht in zwei Stunden wieder vorbeikomme. Aber manchmal bin ich, finde ich, doch nicht ganz unclever… Abfeilen geht unterwegs nicht, aber ich habe, als ich mir in einem Tante-Emma-Laden leckere Zwetschgen (ich liebe Zwetschgen) und zwei Kaffee geholt habe, Visitenkarten mitgenommen und diese zwischen Sohle und Einlegesohle gelegt – genau da, wo die Schrauben durchdrücken. Ich habe die Klickies auch gleich nach hinten versetzt, damit sie nicht immer so den Druck vorn auf meine Fußballen abgeben. Danach war alles wieder super: kein Schraubendrücken und eine bessere Kraftübertragung für mich.
Als ich so mit dem Kaffee, den Zwetschgen und den Schuhen vor dem Tante-Emma-Laden gammel und das langsame, fast nicht existierende Treiben beobachte, höre ich auf dem Spielplatz direkt daneben Kinder beim Spielen quasseln. Es ist kein Deutsch, auch kein Französisch. Ich dachte, es müsse dann Italienisch sein, denn auf den Ortsschildern usw. waren die Ortsnamen ja auch in zwei Sprachen ausgeführt. Aber so richtig italienisch haben sich die Ortsnamen auch nicht gelesen.
Ich höre also unbewusst die Kinder wie ein Rauschen sich unterhalten – und dann fällt öfter das Wort „Kurwa“… Kurwa??? Das ist doch eher Osteuropa, hä??? Ich habe die Verkäuferin gefragt. Sie meinte: Die Leute sprechen hier auch Rätoromanisch. Wieder was gelernt.
Ab Susch – hier kommt man über den Flüelapass in Richtung Davos – geht es, für Henriette und mich, nun nach Süden. Die schon tiefstehende Abendsonne hinterleuchtet die typischen Häuser und Kirchen. Menschen sitzen auf ihren Grädbänken vor den Häusern und Türen, schauen entspannt und nichtstuend in die Welt.
In Zernez ein Wegweiser: Geradeaus St. Moritz, links zum Ofenpass, hinein in den Schweizerischen Nationalpark. Mein Adrenalin steigt. Gestern meinte Christian noch: Mach erst mal den Pass – wenn du den schaffst, schaffst du den Rest auch. Recht hat er.
Also biege ich links ab, Kalorienbomben habe ich genug mit, Wasserstellen habe ich auf dem Weg gecheckt, zwei Kaffee habe ich mir gerade noch rein gepfiffen – und los.
Es geht im Abendlicht, also das Val dal Spöl hinauf. Fast keine Autos unterwegs, es waren in den folgenden zwei Stunden maximal 10 Autos, die mir begegnet sind, durch Galerien und an tiefen Schluchten vorbei. Schatten und Licht wechseln sich ab – ein Erlebnis, das Fotos niemals so wiedergeben können.
In dieser Ruhe kann ich mich voll auf den Anstieg konzentrieren und probiere ein bisschen mit meiner Sitzposition herum. Wenn ich etwas nach vorn rücke und vielleicht dann nach oben kommen würde… das scheint besser zu sein. Also schraube ich flott am Sattel rum: 2 cm höher und nach vorn gestellt – Hammer, ein Gamechanger! Kein Fußballenschmerz mehr, besseres Gleichgewicht und eine viel bessere Kraftübertragung. Ich war richtig geflasht.
Und noch was Spannendes: Psychologisch verändert sich das Bild. Mit dem etwas höher gestellten Sattel, bin ich weiter oben und schaue eher nach unten, die Steigung wirkt dadurch gar nicht mehr so erschlagend steil. Drehst du dich aber um, siehst du, wie brutal die Strecke eigentlich war. Ein irres Gefühl – und ich fahre lachend wie ein Kind, das gerade etwas Neues entdeckt hat die Strecke hoch.
Als es dunkler wird, merke ich wieder, dass ich inzwischen echt ein Nachtmensch geworden bin. Früher bin ich auf solchen Touren in Panik geraten, wenn es dunkel wurde – heute genieße ich es. Keine Hektik, keine Ablenkung, ganz andere Stimmung. Tiere, die erst in der Dämmerung oder in der Nacht rauskommen. Du kannst dich auf das wesentliche fokussieren – und es ist fast wie eine Schule fürs Leben: zu lernen, sich nicht ablenken zu lassen, sondern den Fokus zu halten, auch im alltäglichen Wahnsinn.
Henriette und ich erreichen Ova Spin – soll das der Ofenpass sein, frage ich mich. Wenig spektakulär, und dann geht es gleich wieder eine ordentliche Runde bergab. Nein: Ova Spin ist nur ein Zwischensattel auf der Strecke zum Ofenpass. Hier fängt jetzt der Schweizerische Nationalpark an. Es geht ein ordentliches Stück runter und dann wieder rauf – durch ein, wie ich finde, mystisch, fast dystopisch wirkendes, weit oben gelegenes Tal. Und das Ganze in der Kombination aus „Einsamkeit“ und dem Lichtübergang hin zur Nacht.
Es wirkt auf mich so, wie ich mir Kanada vorstelle… karg, die Bäume etwas gequält, breite Kieselsteinflächen, in denen die klaren, verflochtenen Gebirgsflüsse ihren Weg suchen. Moose, Bodendecker, die Felsmassive links und rechts – und dann erst dieses blau-violette, später dunkelorange Licht der untergehenden Sonne. Die spürbare Kälte der Höhe. Da fehlen (zum Glück) nur noch die Bären, die am Fluss Lachse fangen, um meine Vorstellung von Kanada komplett zu machen. Am nächsten Morgen wird hier bestimmt wieder ordentlich Trubel sein.
Wie schön sich die Sonne hinter den westlich gelegenen Gipfeln verabschiedete und wie die Täler von oben immer dunkler und uneinsehbarer werden. Man steht an einer Kante, es geht steil in ein Tal – ein Tal, das man aber nicht sieht, da es nach unten immer dunkler wird. Wie ein Bergsee, in den man hinunterschauen kann, ohne den tiefen Grund, das Ende zu erkennen. Ein unbezahlbares Schauspiel von Sehen, Hören und Spüren.
21:25 Uhr – ich bin oben und habe den Ofenpass / Pass dal Fuorn (2.149 m) ohne Kampf und Leid erfahren… Es war einfach nur gut.
Hier oben wird es windiger, über das Joch des Passes weht nun der Wind aus dem Val Müstair (zu dem der Pass schon gehört) herüber.
Wie mache ich das nun mit dem Schlafplatz… frage ich mich, erstmal etwas entspannt schauen und überlegen. Oben am Passhaus, das auch ein Hotel ist, springt ein junger Typ vor und fragt mich aufgeschlossen und freudig auf Englisch, ob ich auch wildcampe. Ich meinte, ich muss mal schauen, da das hier ja ein absolutes Naturschutzgebiet ist und Campen etc. verboten ist. Da ich mit meiner Hängematte aber der Natur keinen Schaden zufüge und penibel darauf achte, die Natur besenrein zu hinterlassen, stresse ich mich da nicht. Das Einzige, was passieren kann, ist, dass Tiere etwas durch meinen Geruch irritiert werden und maximal ihre Zugbahnen komplett verlegen.
Der junge Typ meinte, er habe einen mega coolen Spot, abseits der Passstraße und Wanderwege. Er sei nur kurz hier am Hotel, um das WLAN zu nutzen und sein Handy an der öffentlichen Steckdose aufzuladen. Ich glaube, sein Name war Dominik, er kam aus Ungarn und war lieb und nett – für meine Begriffe aber auch etwas schnell, sodass ich kaum was sagen oder überlegen konnte. Naja, dachte ich, er wird mich wahrscheinlich nicht ausrauben, mich in der Nacht überfallen oder über nicht herfallen. Von den körperlichen Proportionen müsste er eher vor mir Angst haben. Hihi.
Ich habe mich ein bisschen einlullen lassen und bin mit ihm in den kargen Wald gestiefelt. Henriette hatte ich im vorderen Bereich im dunklen Wald liegen lassen (mit allem Gepäck und auch dem Handy), zum Glück mit angelassenem roten Rücklicht. Sonst wäre ich Wochen später noch am Fahrrad-Suchen… Ich wollte erst mal den angepriesenen Platz sehen und überlegen, ob ich Henriette überhaupt da reinwuchten möchte. Ich wusste ja nicht, wie weit es wirklich geht.
Weil Dominik so flott und freudig vorlief, fehlte mir der unterbewusste Umgebungs-Scan, den ich sonst automatisch mache um mich in der Landschaft zu verorten.
Der Platz war so versteckt, dass Dominik selbst manchmal fragend im Wald stand und laut überlegte: links, rechts, dort oder hier. Ich musste etwas an Hänsel und Gretel im Wald denken – oder auch an den Aokigahara-Wald, das „Meer der Bäume“ in Japan, auch besser bekannt als Suizid-Wald. Dort setzen viele Menschen ihrem Leben ein Ende, und man findet sie nicht mehr – oder sie überlegen es sich doch anders, wollen leben, finden aber nicht mehr aus dem Wald hinaus und sterben so trotzdem. In diesem japanischen Wald spannen manche Personen Garn durch die Bäume, um im Notfall zurückzufinden. Hätte ich vielleicht auch so ein Garn mithaben sollen???
Nach gefühlten 20 Minuten waren wir an dem angepriesenen Spot und ich dachte innerlich fragend…– Aha –. Wollte aber nicht so irritiert wirken und habe voller Kopf-nickender Überzeugung diesen Platz abgefeiert: „Das ist ein echt cooler Spot, mega!“ Ja, er war wirklich wunderschön – aber sah genauso aus wie die unzähligen einsamen Plätze, an denen wir vorher vorbeigestiefelt sind.
Als Dominik meinte, ich könne mich hier gut aufhängen (natürlich mit der Hängematte) und er hätte da hinten sein Zelt, das ich zwischen den Büschen und Bäumen auch blitzen sah, dachte ich als Urlaubs-Misanthrop: Okay, er sitzt mir nachts nicht auf der Pelle, wir singen nicht romantisch am Lagerfeuer Pfadfinderklassiker, halten kein Stockbrot übers Feuer und ich kann pupsen und pullern, wie ich will. Also zurück, Henriette holen und wieder rein in den Wald. Dominik kam mit, half, wir haben uns gut unterhalten – ein interessanter Mensch. Wieder zurück, ging er gleich zu seinem Zelt, und ich konnte in Ruhe mit Henriette und mir selbst den Tag ausklingen lassen.
Und dann mitten in der Nacht: Ich liege schlummernd in der Hängematte, im dusteren Wald…plötzlich – schwerer Atem und Rascheln direkt an meinem Kopf… Das erste Mal auf meiner Tour fast in die Hose geschissen, aber keine Sorge – es blieb alles sauber. Ich, erschrocken rufend: „Hey!“ Etwas rennt schnaufend ein paar Meter zwischen Bäumen und Sträuchern weg. Kurz Stille, wieder Rascheln und Bewegung – und dann mit einem Schlag ein tiefes, komisches Bellen, so nah und so anders… Da war etwas richtig sauer, dass ich da im Wald rumhing.
Ich konnte nicht einordnen was es genau war, es hörte sich aber für mich gruselig an: Ein besonders großer, komischer Hund mit seinem Höhlenmensch, der nachts sein Unwesen treib? Ein Wolf? Ein Bär? Vor Wölfen habe ich keine Angst, eher vor Wildschweinen, Bären oder bösen Menschen. Aber irgendwie passte nichts so richtig. Irritiert hat mich nur, dass dieses bellende, wütende Wesen immer noch so nah stand – und das über längere Zeit. Ruft es jetzt seine Monsterkumpels, die mich hier im Wald ohne Netz fertig machen wollen?
Das Schauspiel zog sich, währenddessen habe ich mich langsam mit Kopf-Logik wieder entspannt. Und dann ist Fred – so nenne ich das Tier mal – mit einem noch lauteren Abschluss-Bell-Grummeln in die Nacht gelaufen. Ich hörte, wie das Meckern und Traben in der Stille verschwand. Am nächsten Tag hat mir ein Bekannterer erklärt, dass es sich um einen Rehbock gehandelt haben muss.
Mit Blick in die unzählig leuchtenden Sterne, umrahmt vom Passepartout der dunklen Bäume, schlummerte ich schließlich ziemlich müde ein.



































